Brennendes Buch und Schlüssel

Zwei Männer halfen Sighjil auf und führten ihn zurück zu seinem Sitzplatz, wo er sich schwer atmend niederließ. Er schüttelte immer wieder den Kopf, als könnte er nicht begreifen, was wir soeben getan hatten. Meine Augen suchen Nauhrjad und Usthjil, die bis vor einigen Minuten noch dicht hinter uns gestanden hatten. Ich fand die beiden schließlich, wie sie sich einen Weg durch die Menschen bahnten, die sich inzwischen um Arjo, Ron und mich drängten, um zu uns zu gelangen.

Arjo griff nach meiner Hand und sah mich lange an. Schließlich erhob er die Stimme und bat laut um Ruhe. Es dauerte eine ganze Weile, bis man außer dem Knistern des Feuers nichts mehr vernehmen konnte. Nauhrjad und Usthjil hatten uns endlich erreicht und flankierten uns nun, während Arjo auffordernd zu Ron blickte und ihm zunickte. Ron wandte sich daraufhin seinem Vater zu und sagte laut und mit fester Stimme:

»Mit dem, was ich soeben getan habe, sage ich mich von dir los, Sighjil. Ich habe nicht länger einen Vater!« Nachdem er das laut und fest ausgesprochen hatte, fügte er etwas leiser noch hinzu: »Das warst du mir sowieso nie!«

Sighjil fasste sich ans Herz und starrte auf Ron. Ich befürchtete beinahe, er würde einen Herzinfarkt erleiden. Sein Gesicht war kreideweiß und er zwinkerte nicht einmal, während er Ron minutenlang anstarrte. Arjo sprach nach einer ganzen Weile laut und kräftig, um das leise Stimmengewirr, das inzwischen wieder zu hören war, zu übertönen:

»Es ist Rojinhards Wunsch, und es wird so geschehen.«

»Das kann er nicht tun!«, rief Sighjil verzweifelt. »Er ist mein Fleisch und Blut! Er kann sich nicht von mir lossagen!«

»Doch, das kann ich und das tu ich hiermit auch!«, rief Ron bitter in Sighjils Richtung. »Ich hatte nie einen Vater! Ich habe von dir niemals die Liebe empfangen dürfen, die ein Vater für seinen Sohn aufbringen sollte. Du hast mich mein ganzes Leben bevormundet und damit ist nun Schluss! Ich habe durch deine Lügen und Gehässigkeiten den größten Fehler meines Lebens begangen, durch den ich nun gezwungen bin, aus der Zeitzone zu fliehen, in der ich aufwuchs! Ich bin gezwungen, alles hinter mir zu lassen, was mir jemals etwas bedeutet hat!«

»Niemand hat dich dazu gezwungen, Rojinhard! Du bist meinen Worten freiwillig gefolgt!«

»Was hast du mir alles versprochen, wenn ich dir folge? Was davon hast du eingehalten? Du hättest mich im Gefängnis versauern lassen, wenn dir mein Körper nicht so heilig wäre. Doch den sollst du nicht bekommen, das schwöre ich!«

Ron geriet zunehmend in Rage, was Darjan jetzt verhinderte, indem er sich neben ihn stellte und ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte. Ron sah etwas erstaunt drein und schwieg schließlich. Alle Augen richteten sich auf Sighjil, der Ron anstarrte, als stünde ein Geist vor ihm und nicht sein leiblicher Sohn. Ron wandte sich jetzt zu uns um und sah mir lange in die Augen.

»Es tut mir aufrichtig leid, dass ich dich und Arjo in der Silvesternacht angegriffen habe. Ich hoffe, ihr könnt mir das irgendwann verzeihen.«

Ich sah lange auf den Mann vor mir, der so gar nicht mehr der war, den ich zu kennen glaubte. Dass er das Buch so kalt dem Feuer übergeben hatte, hatte mich wirklich ergriffen und ich glaubte ihm inzwischen auch, dass er seine Tat von damals bereute. Ich konnte spüren, dass er das alles jetzt nur getan hatte, um endlich sein eigenes Leben zurückzubekommen. Hätte ich von alledem nur eine leise Ahnung gehabt, als Ron und ich uns trennten, wäre mir vieles leichter gefallen. Ich begriff nun aber auch, warum das damals so gekommen war. Er wollte einfach nicht länger lügen müssen und glaubte, durch diesen Schritt auch endlich Ruhe vor Sighjils Gängelei zu haben.

Rons Augen suchten Arjos Blick. Auch die beiden sahen sich lange und stumm an, ehe Arjo sich in Gedanken an mich wandte:

»Wir sollten ihm verzeihen, Majihari.«

»Ich habe es bereits getan«, antwortete ich Arjo auf dem gleichen Weg, was Arjo mit einem zärtlichen Lächeln quittierte, ehe er laut zu Ron sagte:

»Das, was du gerade getan hast, beweist uns, dass du es ehrlich meinst. Es ist nicht an uns, auf Rache zu sinnen. Wir verzeihen dir und hoffen, du kannst deinen Frieden finden.«

Ron sah nach Arjos Worten für Sekunden betroffen vor sich auf den Boden, ehe er den Kopf anhob und sprach:

»Ich danke euch. Ich weiß zwar noch nicht viel von dieser Zeit hier und allem, was hier so üblich ist. Aber dass das von wahrem Edelmut zeugt, das begreife selbst ich!«

»Wir werden morgen im Hohen Rat weiter darüber reden, Rojinhard, nicht hier und nicht jetzt«, erwiderte Arjo auf Rons Worte. Ron nickte und starrte wieder zu seinem Vater, der innerhalb der Zeit, die wir jetzt hier am Feuer verbracht hatten, um weitere Jahre gealtert zu sein schien. Arjos Augen suchten meine, er drückte sachte meine Hand und lächelte, als er mir zukommen ließ:

»Ich weiß du bist müde. Ich auch, das kannst du mir glauben. Aber noch sind wir nicht am Ende.« Schließlich sah er zu Sighjil und sagte:

»Du hast uns wirklich nichts zu sagen? Nichts zu deinen Lügen, die du über Ardwenids und Garighs Tod verbreitet hast? Nichts über all die Menschen, die so plötzlich von hier verschwunden sind? Nichts zu dem Mann, der vor dir steht und der dein Sohn war, von dem wir lange nichts wussten? Ist das der Stolz eines Vaters, dass der seinen Sohn so lange verheimlicht, um schließlich aus dessen Existenz Nutzen zu ziehen?«

Sighjil antwortete nicht. Er schüttelte nur den Kopf und starrte in die Flammen.

»Du weißt, dass du wegen der Anschuldigungen, die ich eben erhoben habe, vor dem Hohen Rat stehen wirst!«

Sighjil schien nichts von dem aufzunehmen, was gesprochen wurde. Zu tief waren seine Erschütterung und die Erkenntnis, dass er verloren hatte. Nicht nur das Buch mit den tausend magischen Formeln, nicht nur den Schlüssel, der die geheimnisvollen Sprüche aktivieren konnte. Er hatte auch seine Hoffnung verloren, die er auf Rojinhards Existenz gesetzt hatte. Sein eigener Sohn hatte sich von ihm losgesagt, wollte ihn nicht länger kennen und verwehrte ihm so ein Weiterleben nach dem Tod.

Noch während ich das dachte und Sighjil betrachtete, vernahm ich Arjos Stimme in meinen …

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